Thesen zum Medienwandel
Der (zunächst für eine Zeitschriftenveröffentlichung) geplante Beitrag widmet sich den ökonomischen Aspekten des Medienwandels zunächst aus einer wissenschaftstheoretischen Perspektive. Was wissen Ökonomen, Medienwissenschaftler und Soziologen über den Medienwandel, aus welchen Perspektiven argumentieren sie, welche Methoden verwenden sie, welche Begriffe erweisen sich als tragfähig? Er verfolgt letztlich das Ziel, die strukturellen Umgebungsbedingungen für die Weiterentwicklung der Rundfunkgattungen Hörfunk und Fernsehen zu charakterisieren und die notwendigen Anpassungsleistungen dieser Medien zumindest ansatzweise zu benennen.
1. Der aktuelle Medienwandel wird aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben. Für Soziologen ist er mit einem Gesellschaftswandel gekoppelt, den Kulturkritiker noch abzuwenden hoffen. Für manche Medienwissenschaftler und Technikhistoriker wurde der Medienwandel bereits vor zweihundert Jahren mit der Anwendung von Elektrizität angestoßen, andere halten die gerade begonnene digitale Vernetzung von Kommunikationen und Dingen für das wesentliche Merkmal des Wandels. Einigkeit besteht grundsätzlich darin, dass der Computer eine zentrale Rolle spielt. Computernetzwerke bilden Kommunikationsstrukturen, an denen alle Menschen, Unternehmen und Organisationen potentiell aktiv und passiv teilhaben. Nicht entschieden ist, mit welchen Begriffen der Medienwandel am besten erfasst werden kann. Der Prozess, der das Neue hervorbringt, wird als dritte industrielle Revolution, digitale Revolution, Digitalisierung, im Hinblick auf die Medienbranche auch immer noch als Konvergenz bezeichnet. Die entstehende oder schon entstandene neue Formation wird Informationsgesellschaft (Nachfolgerin der Industrie- und der Dienstleistungsgesellschaft), Netzwerkgesellschaft, postindustrielle Gesellschaft, Industrie 4.0, Plattformökonomie, Plattformkapitalismus, Null-Grenzkosten-Gesellschaft, Plattformgesellschaft oder einfach nur „4.0“ genannt. Manche Analysen konzentrieren sich auf ein epochemachendes Ereignis, z. B. Einführung des Computers, des Internets oder die „Digitalisierung“. Ebenso wie bei „post-“Zuschreibungen (postmodern, postindustriell, auch bereits „postdigital“) kann so allerdings ein Epochenverlauf nicht erfasst werden. Epochenmodelle benötigen mindestens drei Elemente, um einen geschichtlichen Prozess zu umreißen. – Die Problematik der Erfassung historischer Strukturverläufe wird einleitend am Beispiel der „Digitalisierung“ dargestellt.
2. Der Medienwandel basiert auf technischen Entwicklungen, ihrer Gestaltung als Produkte und Dienste, ihrer ökonomischen Modellierung und ihrer Durchsetzung auf dem Markt und in der Gesellschaft. Die Beziehung dieser Elemente ist durch Ungleichzeitigkeiten geprägt, und jedes von ihnen weist eigene Umgebungsbedingungen auf, die auf ihre Positionierung einwirken. Die Geschichte der Musikindustrie seit der Erfindung und Patentierung von MP3 (1985) liefert dazu reichhaltiges Material. Nicht nur bei dieser Entwicklung bewies sich der starke Einfluss der Prozessorentwicklung auf Anwendungen und Dienste.
3. Die Veränderungen der technischen und ökonomischen Strukturen, die für Hörfunk und Fernsehen relevant sind, lassen sich mit dem Ausdruck „Digitalisierung“ nicht adäquat erfassen. Digitalisiert wurde die Produktion, Speicherung und Verbreitung von Sendungen, auch die Arbeit der Verwaltungen und der Archive. Gleichzeitig vergrößert sich der semiprofessionelle Bereich rapide. Bedeutsam sind auch die Veränderungen der medialen Umgebungsbedingungen, durch die den Massenmedien zunehmend eine andere Position in der gesellschaftlichen Kommunikation zugewiesen wird. Das Internet bietet eine immer größere Palette von Kommunikationsangeboten und Diensten, die in allen Sektoren des Alltags eine Rolle spielen. Die Massenmedien befinden sich nun in einer Übergangsphase. In ihrer hergebrachten Form verlieren sie beim Publikum an Relevanz, als Diensteangebot im Internet müssen sie Anpassungsleistungen erbringen, die mit hohen Risiken, auch mit dem des Scheiterns, verbunden sind.
4. Das in den 1990er Jahren aufgekommene und gelegentlich auch heute noch benutzte Schlagwort „Konvergenz“ ist im Hinblick auf den Transformationsprozess der Massenmedien an einem entscheidenden Punkt irreführend. Es gibt durchaus konvergente Entwicklungen, beispielsweise die völlige Angleichung der kabelgebundenen Telefon- und Fernsehverbreitung. Auch die Zusammenführung aller medialen Angebote und Dienste auf einem einzigen Endgerät, z. B. einem Smartphone, lässt sich als Konvergenz bezeichnen. Prinzipiell keine Konvergenz findet jedoch zwischen Hörfunk und Fernsehen als Medien und dem Internet statt. Das Internet ist die Zielplattform aller konvergenten Entwicklungen. Seinem evolutionären Sog können sich die Massenmedien nicht entziehen. Mit Begriffen wie „dritte Säule“ oder „Trimedialität“ wurde zu Anfang des Jahrhunderts die bereits erkennbare Relevanz des Internets gleichzeitig unterschätzt. Das Internet lässt sich nicht als Partner der traditionellen Medien pazifizieren, sondern die „dritte Säule“ wird als einzige stehen bleiben. Allenfalls die Bezeichnung „Crossmedialität“ kann sich eine gewisse Berechtigung erhalten, wenn mit ihr die Kombination der sinnlichen Potentiale von Text, Audio und Video gemeint ist. Die Mediengattungen Radio und Fernsehen haben jedoch eine Überlebensaussicht nur noch als lineare Sonderformen eines Internet-only-Mediums.
5. Die Umgebungsbedingungen für die Verbreitung von Hörfunk- und Fernsehinhalten haben sich verändert. Massenmedien funktionieren im wesentlichen interaktionsfrei, der Dialog mit den Adressaten ist allenfalls ein Annex zu einer schon erfolgten Sendung, nicht deren systematisch ermöglichte und erwünschte Voraussetzung. In den Netzen gibt es weitaus mehr Wissen über die Mediennutzer als die „Sender“ wahrnehmen – was auch damit zusammenhängt, dass sie nicht über die Netze oder zumindest populäre Nutzerplattformen verfügen. Dieses Wissen nutzen jedoch andere Medienanbieter bzw. -aggregatoren. Unabhängig von der Frage, wie Persönlichkeitsrechte geschützt werden können („Datenethik“) muss konstatiert werden, dass sich zwischen den sogenannten Sozialen Netzwerken und den öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland eine wachsende Wissenskluft auftut. Die Umstellung von einer auf dem Audience Flow aufbauenden Programmplanung im Fernsehen (die allerdings für gemeinnützige Medien ohnehin fragwürdig ist) auf eine algorithmische Steuerung von Online-Publikationen steht noch am Anfang. Methoden der Priorisierung, Klassifizierung, Kombination und Filterung müssen selbstverständlich auch auf die eigenen Inhalte, nicht nur auf Nutzerdaten angewendet werden.
6. International operierende Online-Plattformen dominieren zunehmend alle Segmente der Medienmärkte. Ihre Geschäfte werden meist von den USA aus gesteuert – das gilt für die Kommunikationsnetzwerke und die Videoportale, während einige erfolgreiche Audioportale von Europa aus operieren. Keine international erfolgreiche Plattform stammt aus Deutschland. Im Zusammenhang mit der Operation dieser Netzwerke und Plattformen lassen sich unter anderem diese disruptiven Entwicklungen identifizieren:
- Die lineare Verbreitung („Hörfunk“, „Fernsehen“) findet weiterhin statt, ihre Nutzung wird jedoch ergänzt und überlagert durch nonlineare Angebote. Die Massenmedien werden von den Angehörigen der jüngeren und der aktiven Generationen nicht mehr als Leitmedien empfunden. Trotz der Disparität der Quellen in allen Feldern der Information und Unterhaltung und der mit ihnen verbundenen Ungewissheiten befürworten viele Konsumenten die Angebotssituation als Erweiterung ihrer Konsumentensouveränität. Dazu gehört auch die Akzeptanz zahlungspflichtiger Angebote z. B. von Streamingdiensten.
- Massenmedien wenden sich an ein „disperses“ Publikum und bauen in Rückkopplungsschleifen durch Konsultation der Medienforschung Korrekturen in ihr Programm-Kontinuum ein. Vernetzte Onlinemedien verfügen über Personalisierungsmöglichkeiten und können Reaktionen von Rezipienten unmittelbar verarbeiten. Für den Aufbau und den Betrieb der eigenen Infrastruktur kann nur eins der beiden Paradigmen maßgeblich sein.
- Das Verbreitungsparadigma der Massenmedien wird durch ein kommunikatives, dialogisches Paradigma abgelöst. Auch die Adressaten nehmen durchWeiterleitungen und Empfehlungen an der Verbreitung der Inhalte teil. Die Verteilung von Inhalten ist in ein Netzwerk von Kommunikationen eingebettet bzw. wird durch diese ergänzt. Die dialogische Offenheit der Medienunternehmen ist nicht nur eine Erfolgsbedingung, sie ist auch ein Public-Value-Faktor.
- Die aus der Zeit des terrestrischen Rundfunks bekannte Kette distinkter Techniken der Produktion, Verbreitung und der Wiedergabe von „Sendungen“ ist gesprengt. Medieninhalte, unter denen auch solche des Rundfunks sein können, stehen auf vielen Endgerätetypen, vom Fernsehgerät bis zur Uhr am Handgelenk, zur gleichzeitigen Rezeption und zum Abruf bereit und sind im Hinblick auf die letztliche Verwendung der Kontrolle der Sender weitgehend entzogen.
- Aus Sicht global operierender Medien-Netzwerke ist der deutsche öffentlich-rechtliche Rundfunk trotz seines Budgets von mehr als 8 Mrd. Euro kein strategisch ernstzunehmender Wettbewerber. Seine beiden USPs sind die im Lande weithin akzeptierte journalistische Kompetenz und die Produktion regionaler fiktionaler und dokumentarischer Videoformate. Die globalen Player können jederzeit auf dem deutschen Markt offensiver werden, nicht nur durch das Angebot von Serien und Filmen, sondern auch durch den Erwerb von Sportlizenzen und die Produktion von Unterhaltungsshows. Die Bundesliga-Liveberichte auf Amazon Music weisen in diese Richtung. Durch den Ausbau der genannten USPs und eventuell durch Kooperationen mit Streaming-Plattformen können die gemeinnützigen Regionalmedien sich ihre Stellung als Nischen-Anbieter erhalten. Zusätzlich notwendig ist allerdings eine erweiterte Online-Strategie, die aktiv auf die Transformation des Rundfunks in ein journalistisch-redaktionelles „Telemedium“ zielt. Dazu reichen Unternehmensentscheidungen allein nicht aus, sondern müssen auch die rechtlichen Voraussetzungen hergestellt werden.
7. Hörfunk und Fernsehen werden in Form linearer Programme auf den Medienmärkten des Jahres 2030 eine weniger prominente Rolle spielen als heute. Das Überleben der Rundfunkunternehmen hängt zunehmend davon ab, ob es ihnen gelingt, ihre Produktionen auf Online-Plattformen sichtbar und relevant zu machen. Dabei sind die Bündelung der einzelnen Formate in Kanäle und personalisierte „Abonnements“ wichtige Faktoren. Neben der Programmplanung wird das Datenmanagement entscheidend. Öffentlich-rechtliche Anbieter müssen sich damit auseinandersetzen, wie sie bei Wahrung der Persönlichkeitsrechte den Nutzern ähnlich komfortable Erlebnisse bieten können wie kommerzielle Plattformen. Das ist auch ein Aspekt des notwendigen Public-Value-Managements. Der Aufbau und Betrieb einer eigenen, gar europaweiten Plattform mit gemeinnützigen Angeboten kann einerseits notwendige Transformationsprozesse beschleunigen, andererseits aber auch kontraproduktiv sein. Um ein Bild aus der traditionellen Medienwelt zu bemühen: Eine Zeitschrift erreicht die optimale Reichweite, wenn sie an jedem Kiosk erhältlich ist und nicht dadurch, dass jeder Verlag seine eigene Kiosk-Kette aufbaut. Da der Rundfunkauftrag auf Inhalte, nicht auf Marken zielt, geht es darum, dass Public-Value-Inhalte sich in jeder Umgebung bewähren. Das Erfolgskriterium für diese Inhalte ist ihr Beitrag zur gesellschaftlichen Kommunikation, nicht das Markenimage des Absenders.